Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
„Advantage
Becker“
Von Benjamin v.
Stuckrad-Barre, Welt am Sonntag, 27.06.2010
Prolog
Der erste Deutsche,
der ihm an jenem 7. Juli 1985 persönlich zum Sieg in Wimbledon
gratulierte, war der damalige Bundespräsident Richard von
Weizsäcker, die Eltern drangen erst viel später zu ihm vor, und
eigentlich war das eine ganz gute Vorbereitung auf alles Weitere.
Jahre später erzählte ihm Günter Grass in einer Bar die Geschichte
von Sisyphos und gab ihm des Weiteren Tipps, wie man all seinen
Kindern, auch wenn sie von verschiedenen Müttern sind, ein guter
Vater sein kann; mit Gary Kasparow spielte er Schach, Martin Walser
schrieb über ihn einen leidenschaftlichen Fan-Essay, sein Nachbar
heißt Michael Ballack, der wohnt schräg gegenüber, und das riesige
Helmut-Newton-Buch auf dem mitgelieferten Metallklappgestell im Flur
ist ein Geschenk von Günter Netzer.
Kurzum, die Rede ist
von Boris Becker.
Wenn wir heute über
Boris Becker nachdenken, fällt uns vieles ein, das nichts mit Tennis
zu tun hat, und das ist eigentlich bedauerlich, aber nicht anders zu
erklären als: mit Tennis. Mit der Art, wie er gespielt hat, ob er
gewann oder verlor, immer war es spektakulär und eine Angelegenheit
von höchstem nationalen Interesse; vor genau 25 wurde aus dem allzu
sprichwörtlichen 17-Jährigen Leimener ein Weltstar, ein deutscher
Held der Gegenwart, und was könnte schöner sein, als einfach mit
ihm zusammen dieses Spiel noch mal zu gucken, das damals schlagartig
den Becker-Wahn in Deutschland auslöste.
Von seinem
Wohnzimmer aus kann man, hinter Zaun und Bäumen, sein Wohnzimmer
sehen. Hä, wie? Ja, im Falle Boris Becker geht es um Spiegelungen
der Spiegelung, und da passt das ganz gut: Als sein Wohnzimmer hat
Boris Becker einst Wimbledon – das Turnier, das Stadion, den
Stadtteil – bezeichnet, und wie so vieles haben ihm die Deutschen
das nachgesprochen, Wimbledon ist Boris Beckers Wohnzimmer. Stätte
seiner größten Triumphe, auch bitterer Niederlagen, auf jeden Fall
mit dem Turniersieg 1985 der Mythos-Geburtsort: Hier ist er ins
Weltruhmeslicht getreten, und hier hat er kreisschließend seine
sogenannte aktive Laufbahn beendet. Er hat aber auch ein
herkömmliches Wohnzimmer, natürlich hat er auf der Welt verstreut
mehrere, aber heute treffen wir ihn in seinem Haus in Wimbledon, das
er vor gut einem Jahr bezog, Treffpunkt ist somit das Wohnzimmer im
Wohnzimmer.
Hinein also in die
zum deutschen Allgemeingut gehörende, seit 25 Jahren
medienübergreifend zu verfolgende, ja kaum verpassbare Seifenoper
„Boris Becker“, und so seltsam es einem vorkommt, nicht nur mit
Bildern von ihm, sondern mit dem echten Menschen Boris Becker
konfrontiert und tatsächlich in einem Raum zu sein, so schämt man
sich doch für das augenblicklich sich einstellende Gefühl der
Vertrautheit, man kennt ja die komplette Familie seit Jahren aus
Zeitungen und Fernsehen: seine Frau Lilly, hallo Lilly, den
zehnjährigen Sohn Elias aus erster Ehe, der einen, kaum angekommen,
sogleich zum Fußballspielen im Garten drängt, und man macht gleich
mit, fühlt sich kaum fremd, oder anders, man fühlt sich, als habe
man gerade das Innere eines Fernsehapparats betreten. Alle da. Ein
heiterer Sprachenmix schwirrt durch die Luft, Deutsch, Englisch,
Holländisch – genau, dies ist eine moderne Patchwork-Familie und,
wenn man so will: der Gegenentwurf zum hypothekbelasteten
Einfamilienhaus in Leimen.
Lilly wacht über
die Fernbedienung, Play, auf geht’s, schauen wir uns auf dem großen
Bildschirm überm Kamin das Spiel der Spiele an, das
Herren-Wimbledonfinale des Jahres 1985. Ganz wichtig jetzt: ihn
siezen! Herr Becker! Nicht du, Boris, du. Das tut gut. Das steht ihm
auch gut. Wenn man über ihn in der „Bild“-Zeitung liest, ihn bei
„Wetten dass..?“ durch ein brennendes Herz hechten sieht, ist es
unmöglich, ihn zu siezen. Aber wie er jetzt so auf dem Sofa neben
einem sitzt, und man zugleich auf dem Bildschirm sieht, was er
geleistet hat, was für ein KING er war, steigt der Respekt ins
Unermessliche. Schön, mal wieder über Tennis mit ihm zu sprechen.
Dieser Boris Becker! Herr Becker! Sir! Es ist so: Wenn sogar dieser
Mann uncool und zuweilen lächerlich „rüberkommt“ in den Medien,
dann sagt das weniger über ihn als über die Medien selbst, diese
Mythoszerstörungsmaschinerie, die tatsächlich jeden zermalmt, die
sogar Boris Becker, so herum ist es richtig, lächerlich aussehen
lässt. Also, schön siezen, bei der Sache bleiben, bei diesem
epochalen Sieg 1985, seiner „persönlichen Mondlandung“, wie er
selbst diesen Sieg in einer Bier-Reklame genannt hat, ja wir sollten
uns angewöhnen, sogar das Wort „Bier-Reklame“ im Zusammenhang
mit Boris Becker hämefrei auszusprechen, denn tatsächlich betrat er
1985 eine Sphäre, die niemand vor und nach ihm betreten hat. Das
muss man beim Sprechen über Boris Becker, das ja meist ein Urteilen
ist, bitte immer mitbedacht werden.
1. Satz
Kommentator:
Sonntag, der 7. Juli 1985, wenige Minuten vor dem Endspiel, welches
ein historisches werden könnte.
Aus dem
Spielereingang zum „heiliger Rasen“ genannten Centre Court treten
die Finalisten Kevin Curren und Boris Becker – ja, die hellblaue
Trainingsjacke! Mittlerweile ein weltweit gefragtes Museumsexponat.
Zwischen Beckers Lippen eine goldene Halskette, ein Geschenk der
Mutter, er kaut darauf rum.
Elias: Papa!
BB: Ja, guck mal,
die gleichen Haare wie du, siehste das? Und immer mit Pullunder, ich
liebe Pullunder, da lachen immer alle, aber ich bin ein absoluter
Pullunder-Fan, damals wie heute, ich habe vorhin sogar überlegt, mir
heute auch einen anzuziehen, habe es aber dann gelassen.
Er trägt heute ein
schwarzes Lou-Reed-T-Shirt. Warum? Nun, ganz einfach, Lou Reeds Hit
„Walk on the wilde side“ sei eines seiner absoluten
Lieblingslieder.
Kommentator: Nie
bisher seit 1877 siegte hier so ein krasser Außenseiter, nie ein
Deutscher, nie ein so junger Spieler. In diesen zwei Wimbledonwochen
hat sich die Welt für Boris Becker verändert. Er ist in dieser Zeit
wohl mehr als 14 Tage älter geworden. Zwischen ihm und dem Sieg
steht noch Kevin Curren.
BB: Man sieht hier,
ich überhole Curren beim Gang auf den Platz, das war mir wichtig, da
schon Entschlossenheit zu zeigen, vor meinem Gegner den Platz zu
betreten, und ich wollte mir den Stuhl beim Schiedsrichter aussuchen
können. Und immer, hier sieht man’s, mit dem rechten Fuß zuerst
auf den Rasen zu treten, das war auch so ein Ritual von mir. So, und
dann wird per Münzwurf ausgelost, wer zuerst aufschlägt, Wappen
oder Zahl, Kevin Curren hat die Wahl gewonnen, und ich habe mir noch
gedacht, warum wählt denn der damals weltbeste Aufschlagspieler
Rückschlag – was für’n Schwächling! Aha, Curren schüttelt
sich die Beine aus, man sieht, der ist nervös.
Hoppla, weiße
Tennisbälle! 1985 war das letzte Jahr, in dem bei solchen
Weltturnieren noch mit weißen, nicht neongelben Tennisbällen
gespielt wurde. Ha, die Erinnerung trügt, im Gedächtnis sind gelbe
Bälle abgespeichert – und beckersches Bananenessen unterm
Handtuch, aber auch das kam erst bei späteren Turnieren.
Kommentator: So
kommt Becker schnell zum ersten Satzball. Ausgerechnet der zehn Jahre
ältere Curren zeigte Nerven. Schon dieser erste Satzgewinn kommt ins
Wimbledon-Buch der Rekorde, denn nie gewann ein Ungesetzter einen
Satz im Endspiel.
BB: 25 Jahre... Wenn
ich diese alten Bilder sehe, ist mir vieles noch erstaunlich präsent,
aber wie ich mich dann vom Kind zum jungen Mann zum Familienvater
entwickelt habe – das kommt mir vor wie 100 Jahre, was in diesen 25
Jahren menschlich mit mir und um mich herum passiert ist. Dünn war
ich, hm, Lilly?
Lilly: Ach, du bist
immer noch dünn, Schatzi, du bist immer noch dünn!
Advantage Becker!
2. Satz
Kommentator: Auch im
zweiten Satz sorgt Becker für Probleme seines Gegners. Es steht drei
beide, wieder so ein Patzer von Curren, drei Breakbälle für Becker.
BB: Der Kommentator
sagt Breakbälle, ich sage Matchbälle. Wenn ich ihm diesen Aufschlag
abgenommen hätte und dann meinen Aufschlag durchgebracht, hätte ich
den zweiten Satz auch sicher gewonnen und damit im Grunde schon das
ganze Spiel. Aber er kam wieder zurück.
Drama jetzt, Becker
springt quer durch die Luft, erreicht den Ball noch, Netzroller,
Curren bekommt ihn noch mal übers Netz, Becker dann nicht mehr.
Kommentator: Sogar
Curren applaudiert dem jungen Mann, aber Curren hat die drei
Breakbälle abgewehrt.
Lilly: War der
Amerikaner, der Curren?
BB: Südafrikaner.
Lilly: Ah so.
BB: Und jetzt kommt
er, jetzt habe ich einen Schuss in die Hüfte bekommen und
Selbstbewusstsein verloren, Curren hat was gewonnen und fängt an,
besser zu spielen als ich.
Elias: Papa, hast du
das Spiel gewonnen?
BB: Schau doch hin!!
Lustig, dass dieses
Spiel für den familienfremden Besucher, einen alles in allem
normalen Deutschen, ein so epochales Ereignis darstellt,
unauslöschlich im
kollektiven
80er-Jahre-Bildergedächtnis: Challenger-Explosion, Live Aid,
Tschernobyl, Wimbledon, Maueröffnung – für Beckers Familie
hingegen gar nicht so: Gattin Lilly scheint tatsächlich nicht
sonderlich viel über die Tenniskarriere ihres Mannes zu wissen.
Unglaublich, dennoch wahr: Elias und sie sehen das jetzt zum ersten
Mal, höflich interessiert, mehr nicht.
Kommentator: Curren
scheint sein Selbstbewusstsein wiedergefunden zu haben, er spielt
jetzt viel besser, 6:6, Tie-Break.
Lilly: Und dieses
Spiel hat damals wirklich halb Deutschland angeguckt, ja?
BB: Wie meinst du
das, „halb Deutschland“? (Lachend) Ganz Deutschland hat das
geguckt! Und etwa 500 Millionen Menschen insgesamt, weltweit. Ich
gebe jetzt ein bisschen an (lacht).
Lilly: Ich war neun
Jahre alt, ich habe mit Barbie und Ken gespielt.
Kommentator: Becker
führt 4:2. Seitenwechsel.
BB: Und Achtung, wie
ich an Curren vorbeilaufe...
Becker hat schneller
die Netzlinie überquert, weicht Curren nicht aus, hätte ihn mit der
Schulter angerempelt – wenn Curren nicht im letzten Moment
ausgewichen wäre.
BB: Ich berühre
fast seine Schulter, aber er dreht sich weg. Dem Gegner nicht
ausweichen, das ist wichtig.
Becker geht weiter,
zupft unschuldig dreinblickend die Saiten seines Schlägers.
Psychologische Kriegsführung! Weiter geht’s. Becker springt
artistisch in der seither als „Becker-Hecht“ geläufigen Manier,
erreicht den Ball noch, schlägt ihn aber knapp ins Aus.
Kommentator: Diese
Hecht-Sprünge gehören zu meinem Spiel, hat der Junge gesagt. Der
Patron Ion Tiriac und Trainer Günther Bosch scheinen weniger davon
angetan.
Zwischenschnitt auf
die Tribüne: Günther Bosch, wie so oft solidarisch gleich gekleidet
wie sein, ja, man muss wohl sagen: „Schützling“; auch im
Pullunder also.
BB: Günther Bosch!
Mit skeptischem Blick.
Lilly: Wer ist der
Typ?
Unglaublich! Sie
weiß tatsächlich nicht, wer Günther Bosch war! Ist das angenehm –
das freut einen wirklich für Boris Becker, dass er ganz
offensichtlich kein Tennis-Groupie geheiratet hat. Nicht
desinteressiert, durchaus liebevoll mitguckend jetzt, zwischendurch
packt sie ein paar mit der Post gekommene, verspätete Geschenke zur
Geburt des gemeinsamen Kindes Amadeus aus, und es wirkt so, als wisse
sie wenig bis nichts Genaues über das gloriose Tennis-Vorleben ihres
Mannes, über dieses ganze hysterische Boris-Becker-Ding.
BB: Der war mein
Trainer.
Neben Günther Bosch
zündet sich Ion Tiriac, Beckers damaliger Manager, eine Zigarette
an. Der Rumäne Tiriac sieht wie üblich furchterregend aus, mit
Mafia-Sonnenbrille und Riesenschnauzbart.
BB: Tiriac damals,
guck! Heiß, oder? Da sieht man die Freundin von Kevin Curren, die
Blonde da auf der Tribüne.
Lilly: Und hattest
du auch eine Freundin zu der Zeit?
BB (schmunzelnd):
Nee, ich war noch nicht ganz sicher, ob ich nicht vielleicht schwul
bin.
Lilly: Doch, du
hattest eine!
BB: Ja, aber die war
nicht da, die war in Monaco. Benedict.
Na klar! Benedict,
Polizistentochter! All diese Namen: Wegmarkierungen des deutschen
Publikums. Man kann ja sämtliche Lebensgefährtinnen, Trainer und
Geschäftspartner Beckers ab 1985 aus dem Gedächtnis chronologisch
aufsagen, das Personal der Boris-Becker-Seifenoper, seine Triumphe
und Abstürze, sportlich wie privat und geschäftlich, Boris suuuper,
Drama um Boris, Boris hier, Boris da, neues Glück, Steuer-Prozess,
uneheliches Kind, Scheidungsdrama, groteske Geschäftsideen, neue
Frau...
Lilly: Die Freundin
von Curren ist doch auch süß.
BB: Texanerin. Aber
ich steh ja nicht so auf Blond.
Allgemeines Lachen
auf allen Sofas, stimmt, das weiß man, Becker Frauen und Freundinnen
waren fast ausnahmslos solchen Typs, der in Deutschland gemeinhin und
alltagsrassistisch als „exotisch“ bezeichnet wird.
Kommentator: Nur 4:3
für Becker – und der 4:4-Ausgleich durch diesen Volley.
Currens Freundin
schöpft wieder Hoffnung, klatscht demonstrativ. Aus dem Publikum
Rufe: Come on Becker!!
Elias (belustigt):
Come on, Becker!
BB: Aaaah, das war
jetzt ein Dämpfer. Einen Satz habe ich gewonnen, einen er, jetzt
weiß ich, okay, es wird ein langes Spiel.
Och na ja, für
Becker-Verhältnisse war das ja wohl ein sehr stringenter, schneller
Sieg: Vier Sätze in 3 Stunden und 18 Minuten, das war doch ein
vergleichsweise glatter Durchmarsch – wie wir in den Folgejahren
mit ihm gezittert haben bei klassischen Becker-Spielen, Stunde um
Stunde, fünf endlose Sätze! Man konnte sich da herrlich
reinsteigern, Becker schlug stellvertretend für uns die großen
Schlachten, „Becker-Passionen“ nannte Martin Walser das und
schrieb, das muss man Becker jetzt einfach vorlesen hier im
Wohnzimmer: „Wenn Boris Becker gewinnt, sieht er aus wie ein Kind
von Kirk Douglas und Burt Lancaster. Wenn er verliert, sieht er aus
wie er selbst.“
BB: Da diene ich als
Projektionsfläche, ob das jetzt Martin Walser ist oder Manfred
Schmidt, ist dann auch egal, in dem Fall ist er Fan und sieht diesen
17-jährigen Leimener, oder noch besser war ja immer die Formulierung
„der 17-jährigste Leimener“, der einen Traum lebt, und da denkt
der Fan, wow, wir haben auch einen, der es mit den ganz Großen
aufnehmen kann, und wenn ich dann verlor, schaute der Fan wieder auf
sein eigenes Leben und merkte, ach, schade, der Becker ist ja auch
nur ein Mensch.
3. Satz
Kommentator: Nun ist
aus dem Match ein sehr gutes Finale geworden. Die Frage ist nun, wer
zuerst dem Druck des anderen nachgibt. Im dritten Satz scheint es
Becker zu sein. Drei beide, 0:40.
BB: Ich sehe da
schon ein bisschen mitgenommen aus, drei Breakbälle, jetzt wird’s
eng.
Lilly: Was dachtest
du da, Babe?
BB: Shit, dachte
ich.
Schnitt auf die
Tribüne: Freundin und Schwiegermutter Currens, siegessicher.
BB: Tja, Ladies, zu
früh gefreut. Ah, mein Trainer wird langsam hektisch.
Günther Bosch reibt
sich auffällig um Unauffälligkeit bemüht am Kopf, mit
ausgestrecktem Zeigefinger.
Kommentator: Was mag
Günther Bosch seinem Schützling signalisieren wollen?
BB: Ball höher
werfen beim Aufschlag vielleicht.
Jetzt fliegt sogar
Curren einem Ball hinterher, wie es sonst nur Becker tut.
BB (sanft ironisch):
Der kann das also auch, sieh an.
Kommentator:
Imitiert der Ältere jetzt gar den Stil des Teenagers?
Currens Freundin
knabbert an ihren Fingernägeln, Curren nimmt Becker den Aufschlag
ab, geht im dritten Satz 4:3 in Führung. Der heutige Becker
schüttelt ungläubig den Kopf, das hat er so nicht in Erinnerung, er
rutscht auf dem Sofa nach vorn.
BB: Ouh, Break?!
Was? Hä? Ich glaub es nicht, der hat mir meinen Aufschlag
abgenommen!
Aber es ist ja dann
gut ausgegangen, wissen wir zum Glück. Raunen jetzt im beckerschen
Wohnzimmer, dem echten, 2010, es wird in die Sofakissen geboxt,
Daumen werden gedrückt: Papa! Oh, Babe! Come on!
Kommentator: Nun
muss der 17-Jährige zeigen, was in ihm steckt. Und er zeigt es. 4:3
für Curren – aber 0:30 nach diesem verschlagenen Schmetterball.
BB (klatscht
zufrieden in die Hände): Verhaut der den Ball, hm? Jetzt merke ich,
ah, Curren wird wieder hektisch.
Lilly hat Kekse und
Pralinen auf den Wohnzimmertisch gestellt, Becker nimmt sich einen
großen Keks, lehnt sich dann wieder zurück, kaut den Keks – er
weiß ja, wie das Spiel ausgeht.
Lilly: Wie alt war
der Curren noch mal?
BB: Er war 27.
Lilly: Ach, zehn
Jahre älter? Deshalb ist der so langsam.
BB: Was? Ist doch
kein Alter, 27 – also bitte!
Currens Freundin auf
der Tribüne vergräbt ihren Kopf in den Händen.
Kommentator: Diesmal
sitzt Beckers Return dort, wo er hin soll. 4:4. Ein Konter bei solch
kritischem Spielstand sagt alles über das Selbstbewusstsein dieses
Jungen.
BB: Das war
natürlich spielentscheidend.
Kommentator: Was
wird Curren tun? 4:5 und 30:15.
BB: Oh, oh,
Doppelfehler, er zeigt Nerven!
Lilly (kichernd):
Guck, wie du dich bewegst.
Sie steht auf,
imitiert den Jungen vom Bildschirm, die Jubel-Fäuste, das Trippeln.
Man will sich da jetzt nicht einmischen, müsste ihr aber vielleicht
erklären, dass all diese Posen, Becker-Faust und Becker-Hecht, seit
1985 zum deutschen Kulturerbe gehören.
BB: Machst dich über
meine Schritte lustig? Das gibt’s doch gar nicht!
Kommentator: 30:40,
Satzball für eine 2:1-Satzführung Beckers.
BB: Guck, jetzt
unterbreche ich, das ist natürlich ein klassischer Becker.
Ein toller Moment:
Curren will gerade aufschlagen, nimmt schon Schwung auf, da dreht
Becker sich um, hört man ihn da „Moment!“ in die Stille sagen?
Noch mal schön die Stirn mit dem Schweißband abwischen, bisschen an
den Schlägersaiten herumspielen, den Gegner aus dem Rhythmus bringen
– okay, auf geht’s.
BB (stolz und
verschämt): Was ich da für Sachen gemacht habe, hm?
Currens Freundin
kaut intensiv an ihren Fingernägeln herum. Aber: Einstand. Becker
flucht, erringt dann erneut einen Satzball, fliegt einmal mehr
angstlos durch die Luft, radiert den Rasen mit dem ganzen Körper,
T-Shirt und Hose jetzt stark verschmutzt.
Lilly (fast
erschrocken): Oh, Baby!
Kommentator: Er
sieht aus, als käme er von einem Fußballfeld.
BB: Ich blute am
rechten Knie, okay, aber was ist da los, Satzbälle, Satzbälle –
und ich mach’s nicht!
Kommentator: Und –
Spiel Curren, 6:6, auch dieser dritte Satz wird also erst im
Tie-Break entschieden.
BB: Ich konnte jetzt
in der Schlussphase seine stärkste Waffe, den Aufschlag, lesen, und
nun wird er sauer.
Currens Freundin
wird immer nervöser, drückt die Daumen, guckt hin, guckt weg, guckt
wieder hin. Becker, im heldenhaft verdreckten Shirt, schlägt ein
Ass, 4:0.
Kommentator: Wieder
einer von diesen weißen Blitzen Marke Becker.
Und noch einer: 5:0.
Doppelfehler Curren, 6:0, Seitenwechsel, wieder das Spiel mit der
Schulterberührung.
Lilly (empört,
besorgt): Hat er dich gerammt?
BB (stolz): Ich hab
ihn gerammt! Die ganze Zeit sind wir da bei den Seitenwechseln mit
unseren Schultern zugange – bemerkt der Kommentator gar nicht.
Nach dem
Schulterberührspiel macht Becker immer irgendwas Ablenkendes,
diesmal begutachtet er nachdenklich seinen aufgeschürften
Ellenbogen, weiter geht’s.
Kommentator: Dieser
Doppelfehler Currens beschert Becker weitere sechs Satzbälle.
BB: Jetzt hat er auf
meinen Körper gezielt – gibt ja so ungeschriebene Regeln, das zum
Beispiel macht man eigentlich nicht, und dass er es dennoch getan
hat, war für mich ein weiterer Hinweis darauf, dass er langsam, aber
sicher die Nerven verliert.
Kommentator: Dieser
fantastische Vorhand-Return bringt dem Deutschen die 2:1-Satzführung.
Die beiden nehmen
auf den Stühlen links und rechts des Schiedsrichter-Hochsitzes
Platz, Becker wechselt das T-Shirt, man sieht seinen weißen
Oberkörper, darauf diverse Abschürfungen und Hämatome.
Kommentator: Dies
ist der Rücken eines Tennis-Akrobaten, nicht der eines
Rugby-Spielers.
BB: Der Rücken
eines Kindes, würde ich eher sagen, wie das aussieht.
Kommentator: Wer mag
jetzt noch sagen, dass dieser junge Mann nicht auch dieses Finale
gewinnen kann?
4. Satz
Kommentator: Erstes
Spiel, vierter Satz, Curren führt 30:15, die krachende Vorhand des
Boris Becker – und 30 beide.
Lilly: Warst du
nicht erschöpft?
BB: Nee, ich hab
gemerkt, dass ich jetzt nah dran bin, zu breaken und endgültig die
Nase vorn zu haben, dann nur noch meine Aufschläge durchbringen
muss, um das Match nach Hause zu bringen.
Kommentator: Und
noch ein Return vom gleichen Kaliber, diesmal mit der Rückhand.
Auf der Tribüne
klatscht nun sogar Ion Tiriac. Die Curren-Freundin ist verzweifelt.
Kommentator: Currens
Anhang leidet mit ihm, Becker führt im vierten Satz 5:3, vielleicht
ist in wenigen Minuten alles vorbei. Matchball Becker.
BB: Das hätt’s
schon sein können, aber so kurz vor dem möglichen Sieg wurde ich
nun doch nervös, Arme werden schwer, Beine werden schwer – fast
Angst vorm Sieg.
Kommentator: Der
Amerikaner aus Südafrika hat nicht immer gut gespielt, aber es
gelang ihm wenigstens, diesen Matchball abzuwehren.
Currens Freundin auf
der Tribüne greift sich in die Haare, untersucht ihre Fingernägel,
ob es da noch was zu kauen gibt.
Kommentator: Und
jetzt schlägt der blonde Junge auf.
BB: So, und jetzt
war ich hektisch, das weiß ich heute noch genau.
Beckers erster
Aufschlag berührt die Netzkante, Tiriac krault sich den Schnurrbart,
Currens Freundin wirkt, als müsse sie mal dringend aufs Klo.
BB: So, jetzt beim
zweiten Aufschlag, da hatte ich auf einmal überhaupt kein Gefühl
mehr – bupp, Doppelfehler! Da schreie mich selbst an, um mich so ’n
bisschen aus der Nervosität zu befreien.
Kommentator: Wird
Becker Geschichte schreiben?
BB: Die Bedeutung
und die Historie begreift man in dem Moment nicht. Ion Tiriac hat
mich sehr beschützt, damit ich meinen Rhythmus nicht verliere. Dass
da zum Finale meine Eltern eingeflogen sind, zwischenzeitlich mein
Großvater gestorben war, und was in Deutschland für ein „Unser
Boris“-Ausnahmezustand herrschte, das habe ich alles nicht
mitgekriegt.
Man muss wohl all
die unter dem Vergrößerungsglas der Massenmedien fortan ihm
passierten Fehler und Kapriolen als Protest gegen diese massive
nationale Vereinnahmung werten. Übrig bleibt dann: ein Held.
Nächster Aufschlag, tipptipp, gucken, Schwung holen, gucken, Zunge
über die Lippen, Ball in die Luft, Körper hochschrauben – und
rummms! Wie hat man bei diesen Aufschlägen, diesem
Zunge-über-die-Lippen-Theater jahrelang mitgefiebert!
Kommentator: Currens
Rückhandball ist im Aus, 30:15.
Es folgt ein Ass,
40:15, Matchball! Becker lässt beide Fäuste nach vorn schnellen,
pustet dann in die rechte, trabt zurück zur Grundlinie. „Quiet
please, ladies and gentlemen, thank you, quiet please!“ – die
Ladies and Gentlemen auf den Tribünen können sich kaum beruhigen.
Und auch hier, in Beckers echtem Wohnzimmer, sind jetzt alle nervös
– er wird gewinnen, wird er doch, oder?
BB: Ich nehm’s
schon mal vorweg, ich mach jetzt noch mal einen Doppelfehler.
Der erste Aufschlag
landet im Aus, der zweite im Netz, Becker schimpft mit sich, Raunen
im Publikum, wird er jetzt unsicher?
Kommentator:
Ausgerechnet jetzt ein Doppelfehler. Zeigt der bisher so coole Junge
doch Nerven?
Lilly: Warst du
sauer, Darling?
BB: Ja, sauer auf
mein Nervenflattern.
Wir sehen: Bosch
kratzt sich am Kopf, Tiriac hat tatsächlich seine Sonnenbrille
abgesetzt, selbst er, der Pate, wirkt jetzt nervös. Becker holt
Schwung, Zungentheater, Ball in die Luft und –
BB: So, überlege
ich mir, wohin habe ich vorher zweimal gut serviert, also noch mal:
in die rechte Ecke. Geschafft! Und jetzt kommt hier der Shuffle...
Becker ist noch in
der Vorwärtsbewegung, die aus der Wucht dieses letzten,
spielbeschließenden Aufschlags resultiert, ballt dann die Fäuste,
kommt trippelnd zum Stehen, schreit vernehmlich „Yeeeaah!“, reißt
die Arme in die Luft, wirft den Kopf in den Nacken. Klick – dieses
Bild hängt bald darauf als Poster in Hunderttausenden deutschen
Kinder- und Jugendzimmern.
Kommentator: Ein
17-jähriger Junge, der das Spiel auf den roten Ascheplätzen seiner
Heimat lernte, und alles so flüssig auf den kurzgeschorenen Rasen
Wimbledons übertrug.
BB (lacht stolz):
Hehehe – na, Lilly?
Der Becker auf dem
Bildschirm dreht sich zu Bosch und Tiriac, geht dann zum Netz, pustet
noch mal in die rechte Hand, Händeschütteln über der Netzkante mit
dem unterlegenen Curren, geht zu seinem Stuhl, dreht sich noch mal
zur Tribüne um, winkt lächelnd.
Lilly: Wem winkst du
da?
BB: Ich hatte meine
Eltern entdeckt, die saßen auf der Tribüne hinter Tiriac und Bosch.
Er setzt sich auf
den Stuhl, fährt sich durch die Haare, zieht die legendäre
hellblaue Trainingsjacke an, ein Zeremonienmeister flüstert ihm, was
protokollarisch nun von ihm erwartet wird, dann schreitet er zur
Trophäenüberreichung durch die Herzogin von Kent.
Kommentator: Der
Pokal, auf dem als 99. Name nun der des Boris Becker eingraviert
wird.
Lilly: Musstest dich
beherrschen, da nicht zu weinen, hm?
BB: Nein, nein, ich
lächle einfach, weinen musste ich nicht.
Bosch und Tiriac,
wie alle der über 13.000 Zuschauer im Stadion, applaudieren stehend,
Tiriac hat die Sonnenbrille wieder aufgesetzt, klatscht nur in der
halben Geschwindigkeit Boschs und all der anderen, er ist jetzt
wieder Mr. Cool, denn nun ist es an ihm, diesen Erfolg zu Geld zu
machen, er hat da auch schon ein paar Ideen, das sieht man ihm direkt
an, zwei Stunden Interview = 150.000 Mark, so die Richtung, an jede
Werbevertragssumme mindestens eine Null dranhängen; Currens Freundin
weiß, dass sie gefilmt wird und tut also, was in diesem Fall zu tun
ist: „Sie kämpft mit den Tränen.“
BB: Ich weine nicht
– die weint!
Deutschland aber
verfiel in einen bis heute anhaltenden Becker-Taumel: „Diese
Vorhand schockt die Welt!“, „Jubelschrei durch Deutschland:
Boris, du bist der Wahnsinn“. Der nüchternste, hellste Kommentar
stand etwas später in der „Washington Post“, lesen wir ihm doch
den mal vor: „Vielleicht war er zu jung, um zu wissen, dass er zu
jung war, um Wimbledon zu gewinnen.“
BB: Tja, wäre mein
Leben anders verlaufen, hätte ich es leichter gehabt, wenn ich mein
erstes Wimbledon nicht mit 17, sondern vielleicht mit 22 gewonnen
hätte? Ich glaube: ja. Ich habe diesen frühen Sieg manchmal
wirklich als Fluch empfunden, plötzlich war ich Legende und Denkmal,
obwohl meine Entwicklung als Spieler noch gar nicht abgeschlossen
war. Jeder wollte plötzlich was von mir, Menschen haben ihre Kinder
nach mir benannt, das hat mir Angst gemacht.
Lilly will jetzt
Fußball gucken, also weitersprechen im – so was hat er wirklich –
Pokerzimmer.
BB: Da blieb
irgendwann nur noch die Flucht ins Ausland. Mein Hauptwohnsitz ist in
der Schweiz, aber ich bin oft und gern hier in Wimbledon, hier sind
die Menschen diskret und freundlich. Es war mir immer klar, dass ich
hier mal herziehen würde. Hm, vielleicht gehen wir einfach mal kurz
rüber zum Centre Court, dann erklärt es sich, glaub ich, von
selbst.
In einem
Bilderrahmen neben Beckers Haustür, auf Augenhöhe, hängt das
Gedicht „If –“ von Rudyard Kipling, aus dem zwei Zeilen am
Torbogen des Spielereingangs zum Centre Court zu lesen sind: „If
you can meet with triumph an disaster / And treat those two imposters
just the same“.
BB: Mit 17 kann man
gar nicht verstehen, was das wirklich bedeutet, aber ein paar Jahre
später, nach Erfahrungen aller Art, Höhen und Tiefen – aha, da
habe ich es verstanden.
Epilog
Am umzäunten, schon
für das anderntags beginnende Turnier eingerüsteten Geländezugang
des „All England Lawn Tennis and Croquet Club“ kommt ein Wachmann
mit Wachmannmütze aus seiner Wachmannkombüse und schaut streng, er
darf hier niemand Unbefugten reinlassen.
Guten Tag, sein
Name, sagt Boris Becker (und man steht mit offenem Mund daneben), sei
Boris Becker, er habe hier vor 25 Jahren erstmalig das Turnier
gewonnen und er wolle seinem Gast mal kurz das Gelände zeigen, ob
das ginge, freundlicherweise?
Nein, sagt der
Wachmann ungerührt, er dürfe hier...
Da kommt sein Chef,
eilend, dienernd, die Mütze lüftend: Mr. Becker!
Ob er, setzt Becker
an – aber der Wachmannchef unterbricht ihn gleich,
selbstverständlich, alles dürfe er, wenn er ihm im Gegenzug bitte
ein Autogramm schreibe. Aber klar, sogar zwei!
Becker zeigt den
Spielertrakt, am Torbogen des Centre-Court-Zugangs die
Kipling-Zeilen, zeigt, wo Tiriac, Bosch und die Freundin von Kevin
Curren damals saßen, auf welcher Seite er den Matchball verwandelte,
wo Richard von Weizsäcker ihm gratulierte – und steht dann kurz
schweigend am Rasenrand, dreht sich einmal, lässt das beruhigende
Dunkelgrün der Tribünensitze auf sich wirken. Hier gehört er hin,
und wenn man ihn hier einmal gesehen hat, wird man es für eine Lüge
halten, dass er bei Gottschalk durch ein brennendes Herz gehechtet
sein soll.
Er holt tief Luft:
Schön. Schön hier, oder?
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